Die Digitalisierung bringt Menschen nicht zusammen, wie oft behauptet wird, sie bewirkt eine Zunahme von Unzufriedenheit, Depression und Einsamkeit, so lautet die These des bekannten Buchautors und Psychiaters Manfred Spitzer. Der ganze Cyberwahn mache einsam und krank. Spitzer steht nicht allein mit seiner Position. Es gibt viele Beispiele und Argumente von Digitalisierungskritikern, die diese Behauptungen stützen. Müssen also das Handy weg, Facebook abgeschaltet und Big Data gestoppt werden? Da wird sich Widerstand regen.
Wie so vieles im Leben hat auch die Digitale Transformation eine andere, gute Medaillenseite, selbst beim Thema Einsamkeit. Im „smart home“, im vernetzten Zuhause, können beispielsweise alte Menschen länger in ihrer gewohnten Umgebung mit Freunden und Nachbarn bleiben. Soziale Robotik im Altenheim (Pepper und Paro) und sozio-assistive Systeme in der Pflege unterstützen das Miteinander und die Kommunikation. Im Mai 2019 hat das norwegische Unternehmen „No isolation“ (Keine Einsamkeit) den Wettbewerb für das innovativste Start-up auf dem Kongress der Sozialwirtschaft in Berlin gewonnen: Ein kleiner Roboter-Avatar steht im Klassenzimmer der Schule auf dem Platz einer schwer erkrankten Schülerin, die so im Krankenhaus teilhaben kann am Unterricht und an den sozialen Interaktionen ihrer Freunde. Noch sind viele dieser Systeme in der Erprobungsphase, aber die Kreativität wächst mit den neuen technischen Möglichkeiten. Beispiele der anderen Seite, der Vorteile der Digitalisierung, sind also genügend zu finden, vor allem im Gesundheitsbereich.
Den Menschen am anderen Ende des Funkkanals ernst nehmen und wertschätzen
Hilft die Digitalisierung bei Einsamkeit? Die Antwort muss ambivalent ausfallen. Eine freundliche WhatsApp-Nachricht und ein liebevolles Bild per SMS können aus der Isolation holen, ermuntern und aufbauen oder zum Lachen bringen. Wichtig ist bei der digitalen Übermittlung, dass der Mensch am anderen Ende des Funkkanals als Lebewesen ernstgenommen und wertgeschätzt wird und nicht nur digital abgehakt und abgefertigt. Auch die vielen Informationen im Internet und zahlreiche Apps helfen dabei, teilzuhaben an der Vielfalt des Lebens und der Wirklichkeit.
Aber Achtung: Die virtuelle Welt suggeriert allzu oft Nutzenoptimierung, Schnäppchenpreise und das sorgenfreie Leben. Hier drohen natürlich Abstürze in die Einsamkeit, weil Leben so nicht geht.
Wir sollten und müssen uns in Zeiten digitaler Optimierung den Respekt vor der Autonomie und Würde des Menschen bewahren, mit all seinen liebenswerten Schwächen, Behinderungen, Erschöpfungen und Einzigartigkeiten. Deswegen begleitet die Caritas die digitalen Entwicklungen konstruktiv, aber kritisch. Allen Beteiligten ist klar: Es kann nicht nur um Ökonomie, Wachstum, kalte Bewertung und Kostenminimierung gehen. Es gilt, soziale Wertesysteme und einen menschengerechten Fortschritt stark zu machen. Auch, damit sich Einsamkeit nicht wie eine Epidemie ausbreitet, wie Experten aktuell befürchten. Der Reichtum zwischenmenschlicher Beziehungen ist nicht über Algorithmen, Likes und Dislikes zu gewinnen. Er entspringt der Messkunst der Seele.
Text: Ägidius Engel, Diözesan-Ethikrat
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